In Deutschland richten immer mehr Kommunen sogenannte Bürgerbudgets und Bürgerhaushalte ein. Die Idee: Menschen vor Ort sollen selbst über die Verwendung von Steuergeld entscheiden. Die Beispiele reichen vom „Harry-Potter-Tag“ über Spielplatz-Sanierungen bis hin zu Wasserspendern.
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„Muggelkunde“, „Zauberschach“, gegebenenfalls ein „Zauberexpress“ – die Beurteilung der Verwaltung: „umsetzbar“ und „im finanziellen Rahmen des Bürgerhaushalts“. Geschätzte Kosten: 33.000 Euro. So lautet ein Auszug aus den Informationsunterlagen des „Bürgerhaushalts“ der brandenburgischen Kleinstadt Oranienburg (ca. 48.600 Einwohner).
Die Bürger verfügen dort über ein eigenes Budget im Haushalt. Sie reichen Vorschläge ein und stimmen ab, wofür das Geld verwendet werden soll. Für den „Bürgerhaushalt“ 2025 stehen mehr als 120.000 Euro bereit – und die verwenden die Oranienburger unter anderem für einen „Harry-Potter-Tag“, inspiriert von der Kinder und -Jugendbuchreihe von Joanne K. Rowling.
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Weitgehend unbemerkt von einer größeren Öffentlichkeit breiten sich in Deutschland unter Namen wie „Bürgerhaushalt“ solche Beteiligungsformate aus, mittels derer Bürger sich ins politische Tagesgeschehen einschalten und Geld direkt verteilen oder Ausgaben vorschlagen können.
Sie zeigen, wofür die Bürger Geld einsetzen, wenn sie können: Das Spektrum reicht über Parkbänke bis hin zu Selbstverteidigungskursen. In der Regel aber geht es um kleine Verbesserungen im Stadtbild. In Oranienburg stimmten die Bürger neben dem Harry-Potter-Tag für neue Spielgeräte auf einem Spielplatz oder einen Wasserspender an einer Badewiese.
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Die Bundeszentrale für politische Bildung überblickt das Phänomen, vernetzt auch umsetzende Kommunen miteinander. Zuständig dafür ist Svetlana Alenitskaya. 2007 gab es ihr zufolge 30 Bürgerhaushalte in Deutschland. In diesem Jahr habe die Zentrale schon 250 Kommunen mit Bürgerhaushalten dokumentiert. „Aber die Zahl dürfte viel höher sein, weil die Datenbank ‚auf Zuruf‘ funktioniert“; die Kommunen müssen sich selbst melden.
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Bürgerhaushalte seien „ein gutes Instrument“, so Alenitskaya, das gegen Politikverdrossenheit helfe: „Wenn ich merke, dass mit meiner Hilfe eine Sitzbank für alte Leute vor meinem Haus geschaffen wurde – dann mache ich beim nächsten Mal vielleicht einen größeren Schritt.“
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Seit Ende der 90er-Jahre, das geht aus Studien hervor, haben sich zwei Idealtypen herausgebildet: Zunächst entstand der „konsultative“ Bürgerhaushalt. Dabei unterbreiten Bürger ihrem Gemeinde- oder Stadtrat in einem formalen Verfahren Vorschläge für Projekte. Entweder einmal im Jahr oder im laufenden Verfahren. Es gibt verschiedene Vorgehensweisen. Zum Beispiel können die Vorschläge mit den meisten Stimmen von der Verwaltung auf Machbarkeit geprüft, dann von den Bürgern abgestimmt und in Ranglistenform dem Kommunalparlament vorgelegt werden. Dieses kann dann umsetzen oder muss begründen, warum es davon absieht. Seit den 2010er-Jahren ist das neuere Modell Bürgerbudget hinzugekommen.
Der Unterschied zwischen den Konzepten: Beim Bürgerbudget verfügen die Bürger direkt über eine festgelegte Summe. Nicht Gemeinderäte entscheiden über die Bürgervorschläge, sondern die Bürger direkt.
Bürgerbudget „auf dem Vormarsch“
In der Praxis allerdings gehen Begriffe und Organisationsformen durcheinander. Etwa in Oranienburg: Dort spricht man zwar vom „Bürgerhaushalt“, tatsächlich handelt es sich dabei aber – weil die Bürger über eine Summe X direkt verfügen – um ein Bürgerbudget.
Das Modell „Bürgerbudget“ sei gegenüber dem Bürgerhaushalt „auf dem Vormarsch“, sagt Jörg Sommer vom Berlin-Institut für Partizipation, das Bürgerbeteiligungsformate untersucht. Aus seiner Sicht gibt es zwei Erfolgsbedingungen für ein Bürgerbudget. Erstens: Geduld. „Wenn sich beim ersten Mal nur wenige Menschen beteiligen, ist ein Bürgerbudget nicht gescheitert. Da gilt wie immer in der Beteiligung: Das ist kein Sprint, sondern eine Langstrecke“, so Sommer. Und zweitens: Das Budget müsse ausreichend üppig sein, „mindestens zwei Euro pro Jahr und Einwohner“. „Optimal“, sagt Sommer, „wären fünf Euro.“
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Außerdem: Natürlich müsse die Stadt- oder Dorfgesellschaft hinreichend über die Möglichkeiten zur Beteiligung informiert werden. „Gerade Gruppen, die nicht ohnehin schon aktiv sind, sind schwer zu erreichen“, sagt Sommer. „Da braucht es gezielte Ansprachen. Das erfordert zusätzlich zum Budget Personal und auch Geld.“
Schwer zu erreichen sind etwa Schüler und Jugendliche. Katrin Wolschke arbeitet in Brandenburg genau daran: Mit Schülern die Teilnahme an Bürgerbudgetabstimmungen einzuüben. Es gehe darum, eigene Bedürfnisse zu artikulieren, Kompromisse in der Schulklasse auszuhandeln und zum einreichungsbereiten Vorschlag zu bringen. Das Projekt, „JUBU – Jugendbeteiligung bei Bürgerbudgets“ finanzieren „Demokratie leben“-Mittel.
Im brandenburgischen Nuthetal „zum Beispiel hatte eine Jugendgruppe während der Corona-Pandemie die Idee entwickelt: Die Jugend bräuchte einen einfach zugänglichen Treffpunkt im Ort, wo sie die Erwachsenen nicht stören. Sie nannten das ‚Jugendpavillon‘“. Vor der Abstimmung über das Bürgerbudget hätten die Jugendlichen mit Flyern vor dem Gebäude, in dem die Bürger abstimmten, für ihren Vorschlag geworben – und die Bürger auch dafür gewonnen.
Wolschke sagt: „Da lernt man dann: Man kann sich in der Demokratie nicht nur bei Wahlen einbringen.“ Genauso in einem Stadtteil von Potsdam: Dort habe, so Wolschke, „eine neunte Klasse einmal einen Selbstverteidigungskurs für sich und die Einwohnerschaft vorgeschlagen, weil sie sich einig waren: In manchen Teilen der Stadt fühlten sie sich nicht mehr so sicher.“ Auch der wurde möglich gemacht.
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In Brandenburg habe es 2015 fünf Bürgerbudgets gegeben – heute seien es 50, so Wolschke. Kein Zufall, in Brandenburg liegt Eberswalde, den Ort nahmen sich viele Kommunen zum Vorbild.
„Wir haben 2009 mit einem Bürgerhaushalt angefangen. Das war damals noch das typische deutsche Verfahren: Vorschläge einreichen, die werden geprüft, gehen dann in die Stadtverordnetenversammlung“, aber beteiligt hätten sich an dem damaligen Modell nicht viele, sagt Stepniak-Bockelmann.
Um 2011/2012 habe man dann ein Bürgerbudget eingeführt; Stepniak-Bockelmann ist dafür in der Verwaltung verantwortlich. Anfangs standen den Bürgern noch 100.000 Euro, heute wegen knapper Kassen 50.000 pro Jahr zur Verfügung. Einzelne Vorschläge dürfen nicht mehr als 10.000 Euro kosten. Abstimmungsberechtigt ist jeder, der in Eberswalde gemeldet ist, egal welcher Staatsangehörigkeit, ab 14 Jahren. Seit Corona wählen die Bürger auch online, vorher taten sie in Präsenz an einem Abstimmungstag.
„Von über 100 ‚Gewinnerprojekten‘ aus den letzten zwölf Jahren – die reichten von geführten ‚Nachtwächter-Wanderungen‘ bis zu Spielplatzsanierungen – haben wir nur ein einziges nicht umsetzen können. Das Geld ging dann in das Bürgerbudget des Folgejahres über“, sagt Stepniak-Bockelmann.
„Dann kann sich Gesamt-Zufriedenheitsgrad einstellen“
„Rechenschaft“, also eine detaillierte Begründung auch über abgelehnte Projekte und eine Dokumentation des Mittelabflusses, sei das A und O, sagt Alenitskaya von der Bundeszentrale für politische Bildung. „Denn wenn ein Bürger etwas einreicht und einfach nichts passiert – dann fühlt man sich veralbert.“ Das haben die Konzepte Bürgerhaushalt und Bürgerbudget gemeinsam: Die Verwaltung legt im Idealfall transparent offen, welche Bürger-Ideen zu viel kosten oder welches Verwaltungsrecht ihnen gegebenenfalls im Weg stehen könnten.
„Wenn die Bürgerinnen und Bürger sehen, dass es tatsächlich Ergebnisse gibt, dann kann sich wirklich so etwas wie ein gewisser Gesamt-Zufriedenheitsgrad einstellen“, urteilt Lilia Lengert. Sie verfügt über einen besonderen Erfahrungsschatz. Im Berliner Bezirk Lichtenberg betreut sie mit ihrer Kollegin Silvia Gröber schon seit 19 Jahren den Bürgerhaushalt – seit es ihn gibt.
Lichtenberg ist auch deshalb besonders, weil es dort ein ganzjährig laufendes Verfahren für den Bürgerhaushalt, also Bürgervorschläge gibt – und zusätzlich seit 2010 ein Bürgerbudget. Genauer: „13 Kiezfonds für die 13 Stadtteile in Lichtenberg“, sagt Lengert. „Angefangen haben wir 2010 mit 5000 Euro, heute sind es insgesamt 169.000 Euro, also 13.000 Euro je Stadtteil, und 220 Ehrenamtliche, die in den Bürgerjurys mitwirken.“
Laut Lengert haben die Bürger anfangs viele Vorschläge zu soziokulturellen Themen, etwa Musikschulen und Bibliotheken eingereicht. Das habe mittlerweile nachgelassen. „Denn: Vieles ist einfach auch schon erreicht worden“, sagt sie. Heute konzentrierten sich die meisten auf Kleines im eigenen Umfeld: Baumpflanzungen, Bordsteinabsenkungen oder Verschattung von Spielplätzen.
Ganz oben auf der Website des Lichtenberger Bürgerhaushalts wird zurzeit vermeldet: Der Vorschlag von „Maria B.“ – einen „Bordstein absenken“ und „Übergang zur Hermann-Gemeiner-Schule schaffen“ – sei nun „umgesetzt/inhaltlich erledigt“. Gedauert hat es von Vorschlag bis Erfolgsmeldung allerdings länger als vier Jahre. Bürgerhaushalte werfen somit auch ein Schlaglicht auf langsam mahlende Behördenmühlen.